AdvanceGender
...
 
Geschlechtersensible und intersektionale Analysestrategien
Hintergrund

In Gesundheitsberichten werden häufig Geschlechtervergleiche dargestellt, z.B. hinsichtlich der Häufigkeit von Erkrankungen oder Risikofaktoren. Dabei entstehen tendenziell homogene Bilder der gesundheitlichen Lage von Frauen und Männern. Weitere Differenzierungen innerhalb der jeweiligen Geschlechtergruppen und hinsichtlich der geschlechtlichen Vielfalt treten in den Hintergrund. Erklärungen von gesundheitlichen Ungleichheiten werden vorschnell pauschal auf das Geschlecht reduziert. Typenbildende statistische Verfahren (z. B. die Klassifikationsbaumanalyse) können eingesetzt werden, um Subgruppen mit erhöhten Gesundheitsrisiken zu identifizieren. Durch einen intersektionalen Analyserahmen sollten möglichst viele relevante soziodemografische, kulturelle und ökonomische Variablen (Differenzkategorien) in Erwägung gezogen werden, die ggf. zur Typenbildung, d.h. zur Identifizierung von Subgruppen, beitragen können. Neben anderen Differenzkategorien wie z.B. Alter, Bildung oder Migration kann Geschlecht entweder als soziodemografisches Merkmal (z.B. weiblich/männlich/divers) oder stattdessen über lösungsorientierte Geschlechtervariablen in die multivariable Analyse eingehen. Eine ausführlichere Beschreibung entsprechender Strategien wird im Abschnitt Datenanalyse gegeben. Folgende Herausforderungen und Optionen für eine geschlechtersensible und intersektionale Auswertungsstrategie für die Praxis der GBE wurden im Projekt AdvanceGender erarbeitet.

Herausforderungen und Optionen

I. Differenzierung

1. Es sollten Auswertungsverfahren genutzt werden, die innerhalb der Gruppe der Frauen und Männer Subgruppen mit erhöhter Prävalenz von Gesundheitsoutcomes oder von Risikofaktoren identifizieren können.

II. Lösungsorientierte Geschlechtervariablen

1. Für das jeweilige Thema relevante Differenzkategorien und genderbezogenen Aspekte sollten vor Durchführung der Analysen konzeptionell zusammengestellt werden.

2. In das typenbildende Verfahren sollten möglichst viele, inhaltlich begründete soziodemografische, kulturelle und ökonomische Variablen (Differenzkategorien) eingehen.

3. Soweit möglich, sollten veränderbare genderbezogene Aspekte in den Analysen berücksichtigt werden, da sie Ansatzpunkte für die Entwicklung von gesundheitsbezogenen Interventionen bieten können.

III. Kapazitäten

1. Soweit vorhanden kann auf frühere Berichte und Auswertungen zurückgegriffen werden, um Geschlechtersubgruppen mit besonderen gesundheitlichen Potenzialen oder Risiken zu identifizieren und innerhalb des Landes oder für die Kommune die Häufigkeit dieser Gruppen zu bestimmen.

IV. Geschlechtliche Vielfalt

1. Verschiedene Geschlechteridentitäten sollten, soweit es die Datenlage erlaubt, bei der Analyse berücksichtigt werden.

2. Wenn auf der Landes- oder kommunalen Ebene keine Daten zur geschlechtlichen Vielfalt vorliegen, sollte auf der Grundlage vorhandener Studien und Berichte auf mögliche gesundheitliche Problemlagen und Bedarfe hingewiesen werden.

Schlussfolgerungen

Die hier formulierten Herausforderungen und Empfehlungen für geschlechtersensible und intersektionale Analysestrategien gründen auf dem wissenschaftlichen Diskussionsstand zur geschlechtersensiblen und intersektionalen Forschung und Berichterstattung. Darüber hinaus wurde die Expertise von Wissenschaftler:innen, Gesundheitsberichterstatter:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft strukturiert einbezogen. In einer Delphi-Befragung zeigte sich große Zustimmung zu den entwickelten Empfehlungen. Für den Bereich „Geschlechtersensible und intersektionale Analysestrategien“ wurden darüber hinaus wichtige Hinweise gegeben, die bei einer Umsetzung berücksichtigt werden sollten. Zum einen wurde angemerkt, dass insbesondere auf Länder- und kommunaler Ebene die Ressourcen und Kompetenzen für komplexe Auswertungen häufig nicht vorhanden seien. Hier könnten bspw. Kooperationen zwischen GBE und Forschungseinrichtungen an Hochschulen auch im Rahmen von Abschlussarbeiten eine Möglichkeit sein, Abhilfe zu schaffen und einen wechselseitigen Wissenstransfer zwischen Forschung und Praxis aufzubauen. Des Weiteren stellen fehlende soziale Differenzierungsmerkmale in vielen Datenbeständen (besonders in amtlichen Statistiken und Abrechnungsdaten) eine Hürde für intersektionale Auswertungen dar. Letztendlich bieten in der Regel vor allem große Befragungen mit Gesundheitsbezug ein hinreichend breites Spektrum an Differenzierungsmöglichkeiten. Diese können meist nicht unterhalb der Länderebene ausgewertet werden. Die Verwendung von Regionstypen (urban, ländlich etc.) bieten hier jedoch eine gewisse Möglichkeit, in der Analyse verallgemeinerte lokale Gegebenheiten zu berücksichtigen. Schlussendlich wurde auch auf Fallzahlprobleme hingewiesen, die z. B. bei der Berücksichtigung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt bei der Analyse vieler Datensätze entstehen können. Durch die Anerkennung einer dritten Geschlechtskategorie ist hier aber perspektivisch mit einer Verbesserung der Datenlage zumindest zu dieser Geschlechterdimension zu rechnen. Nicht-binäre Geschlechtszuordnungen werden zunehmend in amtlichen Statistiken und Abrechnungsdaten mit hohen Fallzahlen erfasst und in Gesundheitsbefragungen über Indikatoren der Geschlechtsidentität erfasst. Das Zusammenführen mehrerer Datenjahrgänge kann zudem helfen, Fallzahlprobleme zu reduzieren.

Autor:innen:

Emily Mena, Gabriele Bolte (Universität Bremen, Institut für Public Health und Pflegeforschung, Abteilung Sozialepidemiologie), Kathleen Pöge, Alexander Rommel, Sarah Strasser, Anke-Christine Saß, Franziska Prütz, Anne Starker (Robert Koch-Institut) im Namen des Verbundprojektes AdvanceGender

Zitiervorschlag: Mena E, Bolte G, Pöge K, Rommel A, Strasser S, Saß AC, Prütz F, Starker A. Geschlechtersensible und intersektionale Analysestrategien. In: AdvanceGender Study Group (Hrsg.). Optionen für eine geschlechtersensible und intersektionalitäts-informierte Forschung und Gesundheitsberichterstattung; 2022. (www.advancegender.info)

Version: 1.0 (Datum: 02.03.2022)