Geschlechtersensible und intersektionale Gesundheitsberichte sollten neben den Daten auch Interpretationen und Erklärungsansätze anbieten. Derzeit bezieht sich die Interpretation und Erklärung von Befunden häufig auf eine Mischung verschiedener Elemente wie z. B. Theoreme (z. B. doing gender) oder als relevant erachtete gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen (z. B. gesetzliche Regelungen, Wertewandel). Problematisch ist dies dann, wenn Interpretationen und Erklärungen spekulativ bleiben, nicht empirisch belegt sind oder selektiv herangezogen werden. So werden zum Beispiel bei der Interpretation gesundheitsbezogenen Verhaltens gelegentlich (geschlechtsbezogene) Handlungsmotive unterstellt (z. B. risk seeking bei Männern), die nicht mit quantitativen oder qualitativen Daten untermauert werden können. Folgende Herausforderungen und Empfehlungen für eine geschlechtersensible und intersektionale Erklärung von Befunden wurden im Projekt AdvanceGender erarbeitet.
I. Konzeptioneller Rahmen für die Interpretation von Befunden
II. Zusammenfassung von Personen zu Analysekategorien
1. Werden Menschen unter einem Oberbegriff zusammengefasst (z. B. Frauen mit Migrationshintergrund), sollte auf die Gefahr fehlerhafter Verallgemeinerungen hingewiesen werden.
III. Evidenz für Erklärungen, Umgang mit Forschungslücken
1. Empirische Studienergebnisse sollten zur Untermauerung der Erklärungen für die berichteten Geschlechterunterschiede herangezogen werden. Hierzu zählen auch qualitative, partizipative sowie Studien mit Mixed-Methods-Ansätzen.
2. Der Evidenzgrad der Erklärung von Geschlechterunterschieden sollte transparent gemacht werden: Anzahl und Qualität der verwendeten Studien sollten benannt und Widersprüche in der Befundlage deutlich gemacht werden. Auf die Gefahr, Geschlechterstereotype zu verfestigen (z. B. Studien mit stark binärem Geschlechterverständnis) sollte hingewiesen werden.
IV. Einbinden externer Expertise
1. Wenn geschlechtersensibel und intersektional über Lebenslagen oder soziale Gruppen berichtet wird, sollten Expert:innen für Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung an Hochschulen in die Umsetzung einbezogen werden.
2. Auch in die abschließende Qualitätssicherung der Manuskripte sollten Expert:innen der Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung einbezogen werden.
3. Nachhaltige Kooperationen mit Hochschuleinrichtungen der Geschlechter- und Intersektionalitätsforschung (z. B. Abschlussarbeiten, die Vermittlung GBE-relevanten Wissens in Lehrveranstaltungen) ermöglichen einen kontinuierlichen Wissensaustausch.
V. Umgang mit knappen Ressourcen
1. Bei knappen Ressourcen kann eine theoretisch und empirisch fundierte Einordnung der Befunde durch
Die hier formulierten Herausforderungen und Empfehlungen für eine geschlechtersensible und intersektionale Interpretation und Erklärung von Befunden gründen auf dem wissenschaftlichen Diskussionsstand um geschlechtersensible und intersektionale Forschung und Berichterstattung, auf Recherchen und Reviews. Darüber hinaus wurde die Expertise von Wissenschaftler:innen, Gesundheitsberichterstatter:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft strukturiert einbezogen. In einer Delphi-Befragung zeigte sich große Zustimmung zu den entwickelten Empfehlungen.
Für die geschlechtersensible und intersektionale Interpretation und Erklärung von Befunden wurden darüber hinaus wichtige Hinweise gegeben, die bei einer Umsetzung berücksichtigt werden sollten. Insgesamt wurde mehrfach angemerkt, dass viele der Empfehlungen für eine standardmäßige GBE auf kommunaler- oder Landesebene sehr herausfordernd sein können.
Es sei daher darauf verwiesen, dass alle hier formulierten Empfehlungen auf eine spezifische Art von GBE zugeschnitten sind, die für sich beansprucht, über die Gesundheit sozialer Gruppen mit heterogenen geschlechterbezogenen Lebenslagen zu berichten. Um Fehlschlüsse und Stereotypisierung vorzubeugen ist eine solche GBE aufwändig und mit einer schnellen Datenbereitstellung kaum vereinbar.
Die Umsetzung von Empfehlungen zum Beispiel zur Reflexion von Vorannahmen oder zur Einbeziehung wissenschaftlicher Evidenz sollte daher, soweit möglich, im Team erfolgen. Darüber hinaus sollten, wie vorgeschlagen, Möglichkeiten zur Kooperation mit ausgewiesenen Forschungseinrichtungen und Expert:innen gesucht werden. Auftraggebende sollten auf die Bereitstellung ausreichender personeller und zeitlicher Ressourcen hingewiesen werden. Die Möglichkeit, wenige ausgewählte Themen gemeinsam mit ausgewiesenen Expert:innen zu bearbeiten, sollte bei knappen Ressourcen in Erwägung gezogen werden.
Autor:innen:
Kathleen Pöge, Alexander Rommel, Sarah Strasser, Anke-Christine Saß, Franziska Prütz, Anne Starker (Robert Koch-Institut) im Namen des Verbundprojektes AdvanceGender
Zitiervorschlag: Pöge K, Rommel A, Strasser S, Saß AC, Prütz F, Starker A. Geschlechtersensible und intersektionale Interpretation und Erklärung von Befunden. In: AdvanceGender Study Group (Hrsg.). Optionen für eine geschlechtersensible und intersektionalitäts-informierte Forschung und Gesundheitsberichterstattung; 2022. (www.advancegender.info)
Version: 1.0 (Datum: 24.01.2022)