Eine intersektionale Perspektive auf gesellschaftliche (Geschlechter-)Gruppen unterstützt Berichterstatter:innen dabei, soziale Gruppen mit spezifischen Lebenslagen stärker in den Blick zu nehmen. Dabei kann es sich zum Beispiel um Frauen mit Migrationshintergrund, Männer mit Behinderung, arbeitslose Frauen oder andere Gruppen in Lebensumständen handeln, die sich nachteilig auf die Gesundheit auswirken können. Ein wichtiges Ziel von Intersektionalität ist es, die Selbstbestimmung sozialer Gruppen durch ihre Beteiligung an Forschung oder Politikentwicklung zu fördern (engl. empowerment). Für die Gesundheitsberichterstattung kann dies bedeuten, dass wenig repräsentierte Perspektiven sichtbar gemacht werden und eine Teilhabe der Betroffenen ermöglicht wird. So können relevante Themen der Berichterstattung besser identifiziert, vorhandene Daten besser eingeordnet und interpretiert und Ergebnisse diskriminierungssensibel kommuniziert werden.
Viele soziale Gruppen organisieren sich zivilgesellschaftlich, z. B. in Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, Vereinen, Verbänden oder politischen Initiativen. Die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteur:innen bietet einen vergleichsweise niedrigschwelligen Zugang zu mehr Partizipation, da diese Institutionen das Wissen und die Interessen der betroffenen Gruppen gebündelt in Prozesse der Forschung, Gesundheitsberichterstattung oder Politikentwicklung einbringen können. Folgende Herausforderungen für die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteur:innen und Empfehlungen für die Praxis der GBE wurden im Projekt AdvanceGender erarbeitet.
I. Heterogenität einer gesellschaftlichen Gruppe berücksichtigen
1. Die Auswahl der einbezogenen Akteur:innen sollte inhaltlich, anhand der Themen des geplanten Berichts und anhand ihrer Funktion für die betreffende Gruppe, begründet werden.
2. Bei der Rekrutierung zivilgesellschaftlicher Akteur:innen sollte darauf geachtet werden, die Heterogenität der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen und deren Lebenslagen ausreichend zu berücksichtigen.
II. Gestaltung von Beteiligung
1. Entscheidungen und Strukturen der GBE sollten für die beteiligten Akteur:innen transparent gestaltet werden.
2. Die GBE sollte die gesundheitlichen Bedarfe der Gruppen, über die berichtet wird sichtbar machen und die Verringerung von gesundheitlichen Ungleichheiten als praktisches Ziel formulieren.
3. Das Engagement der beteiligten zivilgesellschaftlichen Akteur:innen sollte anerkannt werden (z. B. über Co-Autor*innenschaft, Teilen der gesammelten Informationen und Daten).
4. Der Grad der Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen (anhörende Beteiligung bis hin zu Community-gesteuerter Berichterstattung) sollte vorab gemeinsam diskutiert und anhand transparenter Kriterien entschieden werden.
5. Der Umfang der Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen (punktuelle Beteiligung vs. Beteiligung am gesamten Prozess der Berichterstattung) sollte vorab gemeinsam diskutiert und anhand transparenter Kriterien entschieden werden.
III. Knappe Ressourcen (Geld, Zeit, Personal) berücksichtigen
1. Beteiligungsformate sollten ggf. an die Ressourcen der Beteiligten und an die beforschten Themen angepasst sein (z. B. zeitlich flexible Beteiligungsformate) und ressourcenschonende Beteiligungsmöglichkeiten sollten angeboten werden (z. B. aufsuchend, digital).
2. Für die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteur:innen sollten finanzielle Ressourcen eingeplant werden (z. B. Honorare, Aufwandsentschädigungen, Fahrt- und Übernachtungskosten).
3. Bereits vorhandene Strukturen, wie z.B. Gesundheitskonferenzen oder Fachgremien, sollten genutzt werden.
Die hier formulierten Herausforderungen und Empfehlungen für die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteur:innen gründen auf dem wissenschaftlichen Diskussionsstand um geschlechtersensible und intersektionale Forschung und Berichterstattung, auf Recherchen und Reviews. Darüber hinaus wurde die Expertise von Wissenschaftler:innen, Gesundheitsberichterstatter:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft strukturiert einbezogen. In einer Delphi-Befragung zeigte sich große Zustimmung zu den entwickelten Empfehlungen. Für den Bereich der „Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteur:innen an der Gesundheitsberichterstattung“ zivilgesellschaftlicher Akteur:innen wurden darüber hinaus wichtige Hinweise gegeben, die bei einer Umsetzung berücksichtigt werden sollten.
Zum einen ist Beteiligung immer ein aufwändiger Prozess. Er ermöglicht es, Themen gemeinsam mit sozialen Gruppen, über die berichtet werden soll, und nicht ohne sie zu entwickeln. Hierfür sind Zeit und finanzielle Ressourcen grundsätzlich einzuplanen. Einige Expert:innen haben angemerkt, dass dies unter den gegebenen Strukturen einer GBE mit eingeschränkten Ressourcen nicht immer in aller Detailtiefe, die in den Empfehlungen formuliert wurde, machbar sein wird.
Zum zweiten wurde angemerkt, dass Beteiligung nicht für alle Bereiche der GBE gleichermaßen relevant ist. Ein typisches Einsatzfeld sind Schwerpunktberichte über soziale Gruppen, wohingegen bei Standardberichten mit allgemeinem Bevölkerungsbezug Beteiligung weniger geeignet ist.
Drittens wurde die Rolle zivilgesellschaftlicher Akteur:innen auch kritisch reflektiert. Es wurde darauf hingewiesen, dass diese die Heterogenität sozialer Gruppen häufig nicht vollständig repräsentieren und Ausschlüsse bestimmter Perspektiven unvermeidbar sind. Diese Limitation sollte, wenn möglich, sichtbar gemacht werden.
Schlussendlich bestanden bei nicht wenigen Kommentator:innen Vorbehalte gegenüber einer GBE, die gegenüber benachteiligten Gruppen eine anwaltschaftliche Haltung einnimmt. Während auf gesundheitliche Benachteiligungen demnach hingewiesen werden muss, sollte GBE gleichzeitig versuchen, politisch neutral zu bleiben.
Autor:innen:
Pöge K, Rommel A, Sarah Strasser, Anke-Christine Saß, Franziska Prütz, Anne Starker (Robert Koch-Institut) im Namen des Verbundprojektes AdvanceGender
Zitiervorschlag: Pöge K, Rommel A, Strasser S, Saß AC, Prütz F, Starker A. Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteur:innen an der Gesundheitsberichterstattung. In: AdvanceGender Study Group (Hrsg.). Optionen für eine geschlechtersensible und intersektionalitäts-informierte Forschung und Gesundheitsberichterstattung; 2022. (www.advancegender.info)
Version: 1.0 (Datum: 24.01.2022)